Beitrag zum Katalog „mehrschichtig“, 1992
Als ein wichtiges Merkmal heutiger Auseinandersetzung mit Wirklichkeit sehe ich die Strukturierung und Segmentierung menschlichen Erkennens und damit Denkens an. Dieses deutete sich bereits früh in der Spezialisierung der Fachwissenschaften an, die zunehmend ihren Gegenstand in jeweils eigener Sprache und in eigenen Modellen zu beschreiben versuchten. Das Objekt löste sich immer stärker, je nach der betrachtenden Disziplin, in unterschiedliche abstrakte Zeichen auf, die letztlich das Objekt vertreten, an seine Stelle treten. Diese werden wiederum in strukturierten Zusammenhängen gespeichert.
Es ergeben sich Denkmodelle von Wirklichkeit, die sich – aufgrund ihres Abstraktionsgrades – in wechselseitigen Bezügen und verändernden Kontexten umkodieren lassen. Das Ding verbirgt sich nicht nur hinter seinen Abstraktionen, es wird oft erst in dieser Fiktion virulent – man erinnere sich an die notwendigen und gebräuchlichen Zeichensysteme.
Der Gegenstand als unverwechselbare, unauflösliche Einheit ist verschwunden, bestenfalls lebt er noch in den Nischen verschiedener Theoreme, und natürlich – er lebt, existent neben und vor der ihn repräsentierenden Fiktion. Der Gegenstand wird von mir also nicht mehr, unabhängig von seiner Existenz in der Realität, gedacht als geschlossene Einheit mit nur für ihn typischen Zügen, sondern ich sehe ihn, repräsentiert durch die Denkmodelle, im Schnittpunkt verschiedener Theoreme.
Da diese sich wiederum als Struktur darstellen, als Einzelelemente in systematischer Zuordnung, bekommt das Einzelne nach meiner Auffassung seine Unverwechselbarkeit nicht aufgrund spezifischer, nur für ihn gültiger Merkmale, sondern durch eine besondere – innerhalb des Ablaufs von Raum und Zeit allerdings einmalige – Überlagerung allgemeiner Merkmale, die als Teile größerer, allgemein gültiger Zusammenhänge gedacht werden. Immerhin ist der einzelne Gegenstand auch im Modell nicht als einzelnes gedacht, sondern es wird versucht, einzelne Aspekte der Gesamtheit in ihrer Allgemeingültigkeit zu erfassen und diese darzustellen.
Die einzelnen Modelle und in ihrer Folge auch die enthaltenen Zeichen sind zwar auf Wahr-Nehmung hin angelegt, jedoch auf eine, die sich selbst genügt und die Dingwelt, auf die sie verweist, den Sinnen zu entziehen versucht. In den Hintergrund tritt dabei allerdings oft, dass nicht nur mit einer Übersetzung in Zeichen entscheidende Aspekte der Wirklichkeit ausgeklammert werden, sondern dass die Zeichen selbst und mit ihnen die auf sie verweisenden Bedeutungen geschichtlichen Wahrnehmungs- und Wandlungsprozessen unterworfen sind. Somit ist die Wirklichkeit, wie sie uns in den Zeichen entgegen tritt, zwar eine mehrfach gebrochene, allerdings gleichzeitig die einzig relevante. Das Denken in abstrakten Zeichen scheint mir somit – auch in der Kunst – das eigentlich Realistische zu sein, denn es allein vermag jetzt noch die Wirklichkeit beizukommen, da es sie sowohl repräsentiert als auch sie zu beherrschen in der Lage ist.
Allerdings gebiert die Flut der Zeichen keineswegs einen höheren Grad an Information über die Dingwelt. Indem diese weitgehend präformiert und standardisiert sind, repetieren sie lediglich bereits Ent-Sinn-lichtes insofern, als dass das unmittelbar die intendierte Aussage Transzendierende, das in-sich-selbst nicht Fassbare des Zeichens, sein – möglicherweise symbolischer – Wert in Anbetracht des Strebens nach Objektivität der Wahrnehmung nach Möglichkeit bereits entzogen wird. Allerdings könnte er es in seiner Fähigkeit, aus sich die Seinssphäre zu transzendieren, sein, der wieder auf menschliche Grundbefindlichkeiten zurückverweist, Macht verdeutlicht und somit Sinn-stiftend wirkt. Entsprechend versuche ich in meiner Arbeit, Verknüfungssysteme zu erarbeiten, in denen die verschiedenen Zeichensysteme in ihren Differenten nicht kollidieren, sondern sich ergänzen zu Welt-Bildern, in deren Ausformung der Bezüglichkeit der Seinsebenen ich in der Lage bin, nach Nicht-wahr-Genommenem zu suchen und in der Komplexität der reduzierten Konstituenten wieder Welt-Bezug sinn-lich zu machen.
Auch wenn der Gegenstand nicht mehr als isolierbares und fest umrissenes Einzelnes erscheint, sondern in der Mehrschichtigkeit der Überlagerung unterschiedlicher Strukturen neu zu deuten ist, geht es nicht um eine Auflösung, Beliebigkeit von Bildordnungen – das entspräche nicht den Grundzügen menschlichen Denkens und Erkennens. Wenn schon das Naturobjekt gedeutet und in seinem Wert eingeschätzt wird, ist es für mich zwingend, dass das Bild als bereits vom Menschen Vorgegebenes diesem Bedürfnis entgegenkommt. Bereits das Einzelzeichen ist bedeutungshaft aufgeladen, sei es aus persönlicher Erfahrung oder tradierter Symbolik, kann demnach als Wahrnehmungs- u./o. Abbildungsmöglichkeit von Aussagefacetten eines Gegenstandes. Gedacht und damit in ihrem Ausdruckswert verdichtet werden. Die Simultaneität der verschiedenen Zeichen zielt entsprechend auf eine umfassendere Zuordnung von zuvor Disparatem oder gar Heterogenem zu einem neuen Denkbaren. Es zielt damit auf Neu-Deutung von Bekanntem, ist also gedacht als Hilfestellung zur Welt-Sicht.
r. hanke