„Schach-Bauer“
Beitrag zu den Katalogen „R. Hanke“, 1979 und „R. Hanke – mehrschichtig“, 1980
Auf einem Schachbrett – ein Mensch! Er hat dem Betrachter den Rücken zugewandt; gesenkten Hauptes kniet er auf einem Sockel. In der Hand hält er eine Fahne. Über ihm schwebt dunkel und drohend eine große Hand mit gespreizten Fingern; sie ist bereit, den Menschen zu erfassen.
Ein erstes überraschendes Moment dieser Darstellung liegt darin, daß zwei Dinge eine Verbindung eingehen, die in der außerbildlichen Realität so nicht existiert. Im surrealistischen Verfahren der Kombinatorik werden Mensch und Schachspiel in dem Sinne miteinander in Beziehung gesetzt, daß der Mensch als Figur auf einem Schachbrett erscheint. Dabei wird der Mensch jedoch nicht in das übliche Figurenschema des Aufrechtstehens gepreßt, er kniet vielmehr. Sein Haupt ist gesenkt, der Oberkörper nach vorn gebeugt, die linke Hand stützt sich auf. In dieser Haltung drücken sich Kraftlosigkeit, Resignation und Selbstaufgabe aus. Unter der Last des erschlafften, niedergedrückten Körpers gibt sogar der Sockel nach, und das herabhängende Fahnentuch wirkt wie ein Symbol für den Zustand des Mannes.
Das zweite überraschende Moment liegt in der Gestaltung der Hand. In einigen Details gleicht sie zwar der menschlichen Hand, so in der Zahl und Form der Finger; doch sie scheint elastischer zu sein. Die Darstellung verwendet hier ein weiteres surrealistisches Verfahren: die Metamorphose. Die Technik ist dadurch gekennzeichnet, daß sie einen Gegenstand in fremde Materialien überführt. Der Verlauf der zahlreichen Falten läßt den Betrachter denn auch weniger an die Haut von Menschen als an die Haut von Reptilien denken. Auffallend ist ferner die Größe der Hand; der Mensch wird bei weitem übertroffen. Die Hand bedeckt mehr als die Hälfte der Bildfläche. Ein solches Proportionsverhältnis und die Verfremdung geben der Hand den Charakter des Unheimlichen und Übermenschlichen. Die bedrohliche Wirkung wird noch dadurch gesteigert, daß der weiße Hintergrund das Dunkel der Handfläche nachdrücklich herausstellt.
Leicht neigt sich der kniende Mensch vor der von rechts ins Bild kommenden Hand; eine Haltung, die die Bereitschaft ausdrückt, sich widerstandslos dem drohenden Zugriff zu fügen. Allein in der Spitze der Fahnenstange verkörpert sich ein letzter Rest von Gegenwehr, die allerdings eher zufällig und wenig überzeugend wirkt angesichts einer Handfläche, die einem riesigen, aufgesperrten Maul nicht unähnlich sieht.
Fragt man nach der Bedeutung der Hand, so wird man auf das Problem „Macht“ gelenkt. Wer über die dargestellte „Mensch-Figur“ Macht ausübt, bleibt offen; Reinhard Hanke überläßt es dem Betrachter, hier Kirche, Staat, Tradition oder Kapitalismus einzusetzen.
Die Zeichnungen verdeutlicht, daß der Mensch ein Objekt ist, das sich in der Gewalt machtvoller Instanzen befindet. Wie der Spieler über seine Figur verfügt, sie von einem Feld auf das andere bewegt, mit ihr die gegnerische Figur schlägt oder sie opfert, so handhaben diese Instanzen den Menschen. Die hier dargestellt Situation scheint bereits der letzte Akt des menschlichen Dramas zu sein, in dem der Mensch resignierend erkennt, daß sein Glaube an Selbstbestimmung und Spontaneität nur Trug gewesen ist, daß statt dessen die Gesetze des Handelns in den Händen Mächtigerer liegen. Sein Panier hängt matt herab. Mitstreiter gibt es nicht mehr. In Demut erwartet er den nächsten, vielleicht letzten Spielzug.
R.J., 1979