Webbeitrag von r. Hanke 2018
Könnte es sein, dass wir Vieles nicht achten, weil sie für uns täglich geworden sind? Das Kleinkind amüsiert uns, wenn es versucht die ersten Laute zu üben. Als Erwachsener ärgern wir uns, wenn wir ein Wort falsch geschrieben haben. Welche Leistung das Gehirn aufbringt ist uns selten bewusst.
Denn ich musste wie ein Säugling wieder lernen, die ersten Laute zu üben, weil ich einen Schlaganfall hatte, der mein Sprachzentrum völlig zerstörte. Ich brauchte drei Tage intensiver Übung die Laute des ersten Wortes „Mann“ zusammen zu fügen. Mit der weiteren Aufarbeitung sah ich viele Vorgaben, was es lohnt sie zu hinterfragen.
Die Verbindung zwischen Wort und Laut war nur ein erster Schritt. Das System blieb bei allen weiteren identisch. Das Gehirn schafft es segmentierte Elemente zu verbinden und sie zu einer neuen Ordnung zusammen zu fügen.
Einige Tage nach dem Schlaganfall musste ich ausprobieren, ob Bild und Wort gelitten haben. Immerhin war ich darstellender Künstler gewesen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich in diesem Metier wieder völlig neu anfangen müsste. Und es klappte. Also konnte ich parallel in zwei Bereichen die Faktoren der Wiedergabe der Realität untersuchen. Ihre Elemente waren für mich normierte Module, die sehr variabel eingesetzt werden können und deren zufällige Verbindung ihrer Elemente vom Gehirn subjektiv zu einem situationsbezogenem Konstrukt zusammengefügt wird. Auch wenn Sprache und Bild unterschiedlich scheinen – beide weisen ähnliche Prinzipien der Zuordnung auf.
Zufällig war ich auf diesen Zusammenhang gestoßen. Und er schien mir zwingend zu sein. Durch die geringere Denkleistung und die Schwierigkeiten mit der Motorik hatte ich ein statisches Objekt aus Modulen umgestoßen. Statt mich zu grämen freute ich mich über das Ergebnis: Die Reste sind grundsätzlich variabel. Wie meine Laute, meine Worte. Die Grammatik war ein Regelwerk, wie mein Objekt. Wie ein Schriftstück können Leser die Inhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Der Standpunkt ist für den Betrachter und für den Leser das Entscheidende.
Die neue Erfahrung veränderte die Wahr-Nehmung und damit die Realität. So hat die Konkrete Kunst wichtige Ergebnisse zur Wahrnehmung geliefert. Doch alle Bereiche können nur im Zusammenspiel erkannt werden. Wie in vielen Bereichen der Wissenschaften.
Der Inhalt eines Wortes war mir aus der Zeit vor dem Schlaganfall noch präsent, da er in einer anderen Region gespeichert war. Doch musste ich die Verbindung zwischen beiden neu lernen. Das gleiche Prinzip herrschte auf der nächsten Ebene, der Grammatik usw. Ich bin davon überzeugt, dass die „objektiven“ Erkenntnisse der Wissenschaften nur ein Produkt der Struktur des Gehirnes ist. Wir können uns von diesem Korsett nicht befreien.
Auch wenn Zeichen die Realität repräsentieren – sie sind nur ihre Repräsentanten. Wort und Bild. Ihre Bedeutung, die die Gesellschaft ihr zugeordnet haben, sind relativ einheitlich. Aber Form und Ausdruck sind variabel. Getrimmt auf Einprägsamkeit und Geschwindigkeit. Also konnte ich ihre Struktur verändern, ihr Aussehen, ihr Verhalten. Ich vertraute auf die Fähigkeit des Betrachters, der es schaffen würde, die Elemente zusammen zu klauben und in eine neue Ordnung zu bringen. Mit seiner Assoziationskraft würde er das Ergebnis nicht nur mit neuem Leben einhauchen und es zu verstehen.
Immerhin besteht der Mensch aus unterschiedlichen Ebenen. Die Gesamtstruktur ist nur ein Empfinden eines Augenblickes. Trotzdem schafft es das Gehirn die Gesamtheit aller Module auf allen Ebenen als Einheit wahrzunehmen. Die gleiche Sache kann entsprechend zu völlig unterschiedlichen Erscheinungsbildern der Wahr-Nehmung führen.
r. hanke, Webbeitrag 2018