Beitrag zum Katalog „mehrschichtig“, 1992
Seit mehr als zweitausend Jahren treten Wort und Bild in Konkurrenz als Informationsträger und Mittel zur Welterkenntnis auf. Dieses verweist nicht nur auf ihre Unterschiede, sondern auch auf ihre Gemeinsamkeiten.
Beide beziehen sich auf eine Wirklichkeit, die bereits vormenschlich und damit vorsprachlich vorliegt, die sich immer wieder neu bildet und sowohl die Innenwelt des Menschen als auch seinen geistigen und innerseelischen Bereich umfaßt. Sie stellt sich dem Menschen als rätselhaft, fremd, chaotisch und bedrohlich dar. Die Formulierung in Wort und Bild ist im Zeitenlauf existentiell notwendige Erwiderung des Menschen auf das Bedrohliche dieser Innen- und Außenwelt.
Der Mensch antwortet, indem er die Dinge durch Benennung herauslöst, sie isoliert und sie damit für sich zugänglich macht. Sprachliches ergreifen ist wesentliche Grundlage für den Erkenntnisprozeß. Benennung und Begreifen bedeuten Überführung des Chaotischen ins Geordnete und Transparente. Was liegt da näher, als eine „Verbildlichung“ in die Sprache einzubeziehen, eine Zusammenführung von Wort– und Bildsprache anzustreben – von der Metapher über das Symbol zur Chiffre. Diese Tendenz setzt sehr früh ein, man betrachte die monumentale bildhafte Sprache der Bibel, und verweist z.B. über die Zaubersprüche des Althochdeutschen in unsere Zeit, wo in der Werbung und noch stärker im Film die ehemaligen Konkurrenten wieder zu Einheit verschmelzen.
So wie die Sprache die Menschen verbindet, hat es schon immer Tendenzen gegeben, Sprache zur Dissoziierung einer sozialen Gemeinschaft einzusetzen. Verwiesen sei nur auf die zunehmende Bedeutung der Fach- und Gruppensprachen. Sie sind Instrument der Solidarisierung nach innen und Isolation nach außen und werden dadurch zum Machtfaktor, Instrument einer Herrschaftssicherung, die auf einer gemeinsamen Weltsicht basieren.
Obwohl die verwendeten Worte die gleichen sind, ist die Semantik eine völlig andere. Die Sprache wird erst aus dem Kontext und ganz individuellen Erfahrungshorizonten und Assoziationsvermögen erkennbar. Sehr schön nachvollziehen läßt sich das an der allerorten präsenten politischen Rede, die mit ihren stereotypen Wendungen, emotional wertenden Verallgemeinerungen, Metaphern und Bildern auf Hörer, Leser = Konsumenten einströmt und sie gezielt zu beeinflussen versucht. Eine Steigerung bedeutet die Verwaltungssprache, die mit ihrem Streben nach Genauigkeit nur indifferent, chiffriert, lebensfern und quasi unverständlich wirkt.
Markanter wird diese Tendenz, wenn Wort und Bild gemeinsam auftreten, sei es bei den Nachrichten, wenn objektive Gehalte angeboten werden, bei der Werbung, dem Transport subjektiver Werte, oder im Film bei der Darstellung fiktiver Wirklichkeit, der jedoch mit seinem Realitätsanspruch und der Auswahl von Weltsicht den Konsumenten am stärksten zu Entscheidung zwingt. Sollte es nicht Ziel sein, den Betrachter zu beeinflussen, sondern lediglich die immense Informationsflut zu steuern, zu bewältigen und zu nutzen, bleibt immerhin ein interessantes Phänomen erkennbar: Die Bilder bleiben bei neuen Sprachinformationen erhalten, neue Bilder werden mit stereotypen Inhalten eingeführt. Erst einmal geht es natürlich um Wiedererkennbarkeit und Orientierung für den Betrachter, jedoch bereits die vielfältigen Intentionen, die sich der Bild-Sprache bedienen, bleiben selbst zunächst unklar. Der Nachweis der Glaubwürdigkeit soll erbracht werden – innovative Gedanken werden jedoch dabei dem „streaming“ unterworfen und kommen damit selten zum tragen.
Die parallele Entwicklung von Wort und Bild bedeutet Umsetzung von Wirklichkeit in prinzipiell von einem realen Anlaß losgelöste Chiffren und Symbole, die als vorgeformte Versatzstücke eingesetzt werden und die der Konsument entschlüsseln und zu eigener „Welteinsicht“ zusammensetzen muß. Da Sprache und Bild sich ständig ergänzen und bedingen, entsteht eine Kette der Vereinfachung, die bei Bildern zu Piktogrammen, bei Sätzen zu Schlagwörtern führt und bei Typisierungen und Stereotypen endet.
Die moderne Welt gerät zunehmend zur programmierten und fiktiven Realität. Sie muß heutzutage vom Individuum daraus wieder geschaffen werden, indem er eine Abstraktion persönlicher Art aus der Flut von „Weltbildern“, Piktogrammen und der redundierten Sprache in Form einer Rückübersetzung vornimmt. Dabei verbindet sich leicht die Anfälligkeit für den oberflächlichen Umgang mit Bildern und Sprache mit einer auf Phrasen, Schlagwörter und Klischees reduzierten Information. Eine Steigerung erfährt dieses noch im wirtschaftlichen Bereich – in der Werbung. Zielgerichtet wird durch Superlative, Idealisierungen und Typisierungen eine für den Konsumenten kaum noch zu durchschauende Verfälschung geschaffen, indem sie sein eigenes Vokabular verwendet, umdeutet und es ihm wieder anbietet. Diese neuen „Realitäten“ sind dabei lediglich die alten seines eigenen Bewußtseins.
Eine kritische Reflexion dieser Tendenzen läßt sich an der Entwicklung der Literatur nachvollziehen. Dichterische Arbeit ist kreative Tätgkeit mit Bezug zur Wirklichkeit. Gleichsam in einem zweiten „Schöpfungsakt“ wird eine neue Wirklichkeit geschaffen, die der vorgegebenen in einer persönlichen Strukturierung entgegensteht. Damit fungiert Dichtung vor allem dort, wo das rationale Verstehen zunächst einmal versagt. Im Vorgang der Verdichtung zeigt sich eine individuell prägnante Antwort. Als Beispiel sei kurz die Entwicklung des lyrischen Bildes von Goethe bis Fried gezeigt.
Goethes Symbol lebt von drei Elementen: Erscheinung, Anlaß – das Historische, eine ganz bestimmte menschliche Erfahrung ein Erlebnis; Idee – eine allgemeine, gesetzmäßige, dem Dichter vorschwebende Wahrheit; Bild – es entsteht durch unmittelbares Anschauen irgendeines Gegenstandes, etwa eines Naturvorganges. Ein dem Leser verständlich zu machender Naturvorgang läßt die Idee erkennen, hat aber in seiner Anschaulichkeit Eigenbedeutung. Damit wird für Goethe Natur und Naturerlebnis, das Reelle, Grundlage für die Ideen.
Die Umkehrung gilt für die Romantiker. Für sie ist die Poesie das „Reelle“, dadurch erhalten die Dinge ihren Sinn. Für das Welt- und Naturbild der Romantiker ist zutreffend, daß die Gegenstände an sich unbedeutend sind. Der Geist, „die Poesie“ erfüllt sie für den romantischen Dichter mit Leben. Die Distanz zwischen Natur und Welt ist aufgehoben. Da die Dinge keine Eigenbedeutung mehr haben, sondern nur noch „Tasten“ sind, deren Klang die „Poesie“ ausdrückt, ist ihr Sinngehalt reduziert. Die Bedeutung des sprachlichen Zeichens und der Sinn sind nicht mehr identisch. Allgemeingültigkeit geht verloren. Die Konventionalität des sprachlichen Zeichens existiert nicht mehr. Die Dinge der Natur sind nicht mehr Bilder für etwas „Höheres“, etwa einer Idee, sondern „Chiffren“, die nicht mehr jedem zugänglich sind. So vermitteln z.B. Brentanos Gedichte vielfach einen Eindruck von Klangfülle und dahinfließender Musik. Weniger der Inhalt bleibt haften, als einige wenige Wörter und ein unbestimmbares wehmütiges Gefühl. Die verschiedenen Bilder erscheinen zwar einfach zu sein, aber durch eine sprachliche Gleichsetzung können sie werden eine reale Entsprechung als Anschauung aufweisen noch geht es bei dem Bild mehr um Anschaulichkeit – es zeigt einen ganz individuellen reichhaltigen Vorrat an Möglichkeiten zur Weltsicht.
Im weiteren Verlauf verschärft sich das Problem des „Mangels an Welt“ noch zunehmend. Die „Umwelt“ änderte sich für die Expressionisten schneller und tiefgreifender als jemals zuvor. Von der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften, über die Vermassung in den Großstädten bis hin zu den Erkenntnissen der Psychoanalyse verlor das Individuum ein Gefühl der Identität mit sich selbst und seiner Umwelt. Realität ist nicht mehr vom Individuum zu bewältigen. Die Konsequenz ist Abkehr. Der Ursprung der expressionistischen Kunst und Lyrik ist der Mensch selbst. Er bildet Wirklichkeit aus seiner Sicht ab, hat die Befähigung, Wirklicheit aus seiner Perspektive zu sehen und gemäß seiner Vorstellungen abzuändern und darzustellen. Das Thema expressionistischer Lyrik ist häufig Ursprung einer Kette von Assoziationen. Es entsteht eine eigene Welt von Impressionen. Den Zusammenhalt bilden verschiedene Assoziationskomplexe. Ein Beziehungsgefüge entsteht. Der Leser muß bereit sein, vorgenommene Andeutungen sinnlicher Erfahrungen durch assoziatives Denken zu entschlüsseln, für sich selbst zurück zu übersetzen, um so in die Welt des Gedichtes, des Gedichtes als Objekt, als sinnfällige Gegenwelt, einzudringen. Die absolute Chiffre ist nicht mehr wie Goethes Symbol in der Wirklichkeit verwurzelt. Sie ist nicht mehr Zweck als Ausdruck einer Idee, sondern schafft eine eigene Welt als Ersatz für die „verlorene Wirklichkeit“. Sie ist im Gegensatz zur romantischen Chiffre sinn- und zweckfrei. Ihre Bedeutung kann nicht mehr wie die das Symbols erschlossen werden. Wirksamkeit erlangt sie erst innerhalb ihres Beziehungsgefüges. Jedes moderne Gedicht erlangt seine, von der äußeren Wirklichkeit unabhängige Eigengesetzlichkeit.
Für den Rezipienten zeitgenössischer Lyrik liegt die Hemmschwelle noch höher, da die Gesetze der Logik und des Gewohnten nicht mehr existieren. Manche Bildelemente, die ein Bild formen, sind bisweilen einander entgegengesetzt, paradox, sie scheinen die logischen Gegensätze zu verknüpfen, z.B. bei Ingeborg Bachmann. Das lyrische Paradox ist eine Erweiterung der absoluten Chiffre, da es unvereinbare Gegensätze zusammen zwingt und dadurch neue Vorstellungen von Welt beim Betrachter schafft. Neue Aspekte öffnet z.B. Erich Fried, indem er wie viele moderne Lyriker bildhafte Redewendungen verwendet. Damit akzeptiert er einesteils die Begrenztheit des modernen Sprachgebrauchs in seiner besinnungs- und bewußtlosen Standardisierung und klischeehaften Vorgeformtheit. Anderesteils leitet er den Leser dazu an, die Versatzstücke neu auf Gehalte hin abzuklopfen, um zu zeigen, daß man sich des Bildgehaltes kaum bewußt ist. Diese Wendungen scheinen mehr von der Welt zu zeigen, als ihr oberflächlicher Gebrauch in der Sprache ahnen läßt. Es ist ein Spiel mit den Bedeutungen, die er wörtlich nimmt und damit ihre Weltbedeutung ad absurdum führt.
Gerade aus der Abgrenzung und Abgegenztheit von Sprache und deren Abbildungskraft zeigen sich neue Möglichkeiten auf, die Eindrücke des jeweiligen Autors für den Leser/Betrachter neu für sich zum Leben zu bringen. Fremderfahrungen ermöglichen so über den Zugang zum Kunstwerk mit seinen Vorgaben eine mögliche Bereicherung der eigenen Weltsicht. Des jeweiligen Autors für den Leser/Betrachter neu für sich zum Leben zu bringen. Fremderfahrungen ermöglichen so über den Zugang zum Kunstwerk mit seinen Vorgaben eine mögliche Bereicherung der eigenen Weltsicht.
Rainer Hohmann, 1992