Einführung in den Katalog „mehrschichtig“, 1992 von Peter Reindl
Der 1951 in Bad Oeynhausen geborene Maler Reinhard Hanke hat in Braunschweig (1969-73) studiert. Seine ersten Ausstellungen zeigten ihn als einen virtuosen Realisten, der durch „mehrschichtige“ Trompe-l’oeils von fast altmeisterlicher Realistik zu verblüffen wußte. Gesellschaftskritisches, der Mensch als Maske (der auch nach deren Abnahme noch lange nicht sein wahres Gesicht zeigt!), der Mensch vom Menschen bedroht, als Spielfigur unbekannter Kräfte, im Räderwerk, von undurchschaubaren Schaltplänen gesteuert und immer wieder sein unfaßbar bedrohliches Eingegrenztsein, aber auch sein Spiel mit der Fiktion, ja der mehrfach ineinander verschachtelten Fiktionen.
Um 1980 zeichnete sich aber schon in zahlreichen Blättern Hankes eine Verselbständigung zeichnerischen Strukturen ab, die seine realistische Objekttreue ganz erheblich in Frage stellte. Mehr oder weniger realistische Fragmente menschlicher Figuren beziehungsweise Bildnisfragmente vor steinbruchartigen Kulissen durchziehen sein damaliges Werk, immer häufiger vermischt mit metallischem Räderwerk von geheimnisvoller Funktion oder durchzogen von merkwürdigen Metallgestängen zum Beispiel. Innenräume entstanden von bedrückender Ausstrahlung, vergleichbar den „Carceri“ Blättern Piranesis und deren Visionen unheimlicher Folterkeller unbekannter Mächte. Vermehrt tauchten damals schon abstrakte Strichlagen in diesen Blättern auf, die an informelle Malerei denken ließen.Nur wenige von jenen realistischen Anfängen ist heute noch in Hankes Bildern zu finden: zehn Jahre später begegnen wir scheinbar einem völlig gewandelten Bild. Gegenüber den akribischen Bleistiftzeichnungen von früher dominieren heute die Arbeiten mit Pastellkreide und überhaupt die Farbe in Hankes Bildern.
In einem ist er sich dennoch treu geblieben: noch immer erzählt er kleine Geschichten – auch in seinen großformatigen Pastellen – aber nun sind es merkwürdig verschlüsselten Bildergeschichten! Farbkreuze etwa werden aus einer dunklen Zone entlang eines Kreidestrichs verschoben, oder von einem Pfeil angewiesen, wird ein kleines blaues Rechteck zu einem dunklen Schattenkreuz vor einer grauen Wand transferiert. In wieder anderen Bildern erscheinen kalkweiße Zeichen, die an Piktogrammfolgen erinnern, vor ockerfarbenen Wänden: von einem Paket zu einem gefalteten Papier sich wandelnd und schließlich nur noch weißes Viereck, das sich letztlich in weiße Winkelhäften auflöst, um dann in mehreren Stufen im Mauergrund zu verblassen u.s.w.. Kreuze und x-förmige, also diagonal gekreuzte Striche sind Beispiele von solchen Zeichen, die – obwohl von größter Einfachheit und formaler Schlichtheit – eine unerhörte Vieldeutigkeit anklingen lassen: seien sie nun aus mathematischen oder literarischen Zeichensystemen, ohne auch nur von ihren symbolischen beziehungsweise allegorischen Assoziationsfeldern zu sprechen, die vom Kulturgeschichtlichen bis in Religionsgeschichtliche reichen.
Was sie uns erzählen? Es sind auf den ersten Blick keine menschlichen Tragödien, aber es sind Strukturen solcher Geschichten, Handlungsabläufe verallgemeinern die ehemals spezifische Geschichte auf ihr bloßes Abfolgeschema. Gemeimnisvolle Lichter und Schatten lassen die Bildfläche zur Handlungsbühne werden. Graphische Linien und farbige Flächen sind jetzt die Hauptakteure selbst, sie haben die Rolle des dienenden Mediums aufgegeben, das die menschlichen Tragödien nur unmittelbar abzubilden sucht – und dabei nur allzuleicht für undurchsichtige Manipulationen mißbraucht werden kann.
An anderer Stelle begegnen wir stillleben-artigen Aufbauten mit Krügen vor Fruchtkörben und den leuchtenden Farben frischer Früchte. Diese Zonen leuchtender Farbkraft sind höchst sparsam eingesetzt, wie kostbare Juwelen vor denen meist weniger auffälligeren Hintergrundflächen, die aber gerade dadurch ihre je eigene Qualität erhalten. Das Auge wird durch die Signalwirkung der Primärfarbe erst für die keineswegs spannungslosen Raumstrukturen sensibilisiert.
Hin und wieder taucht so etwas wie eine primärfarbige Horizontlinie auf oder ähnliche Andeutigungen einer räumlichen Situation, obwohl es sich bei genauerem Zusehen doch nicht so verhält. Insgesamt sind es Bilder, die dem Betrachter einen unerschöpflichen Reichtum an Assoziationen anbieten. Von theatralischen Auftritten in hochaufschießenden Architekturen über das Rund von Zirkusarenen bis zum Einblick in einsame Klosterzellen – alles wird in diesen Bildentwürfen durch malerischen Gestus und Farbsatz angedeutet und dem Betrachter die Möglichkeit gelassen, all diese Geschichten für sich selbst in diesen Bildformeln wiederzufinden.
Obwohl düstere, meist lavierte Farben, von Grau bis fast Schwarz und Erdfarben von Ocker bis Umbra, die in diesen neuen Arbeiten Hankes überwiegen, entbehren sie nicht kräftige Farbakzente. Mit Pastellkreiden gesetzte leuchtende – oft primärfarbige – Kleinflächen und häufig bildbestimmende Linien, die an unbeholfene Kinderhände erinnern, setzt Hanke gleichsam Zitate naiver Kunst ein. Auch scheinbare Annäherungen an kindliche Malweisen nutzt er erfolgreich, um in seinen kultivierten Farbräumen auf diese Weise die Ursprünglichkeit und zugleich Allgemeinverbindlichkeit seiner Bildmittel noch zu steigern.
Es ist ihm so gelungen, eine außerordentlich einfache, sowohl kultivierte und verbindliche Bildsprache zu entwickeln als auch eine eigentümlich individuelle Welt von großer Vielfalt zu entwerfen. Hanke entschied sich sehr bewußt für diesen neuen Weg, weil er ein wesentliches Merkmal der Malerei darin sieht, „Nicht-Begriffliches“ auszudrücken; „Das Denken in abstrakten Zeichen“ erkennt Hanke ausdrücklich „auch in der Kunst – als das eigentlich Realistische“ in unserer Zeit! Durch den Verzicht auf Gegenständlich-Begriffliches entgeht er Vergleichen zu Karikatur oder Genremalerei; er entgeht damit auch dem Zwang, hier als Maler gesellschaftspolitische Stellungnahmen abzugeben in einem Medium, das dafür nur wenig geeignet ist. Seine Werke schaffen seither den Rahmen nicht mehr nur für eine Geschichte, sondern bieten nun Raum für viele: allein die Phantasie des Betrachters beschränkt die Fülle ihrer Möglichkeiten.
Peter Reindl, 1972